Ungerecht
"Schiedsrichter: Telefon! Deine Alte wartet schon!" So heißt es nicht eben geschmackvoll in den Fußballstadien, wenn die grölende Menge unzufrieden ist mit den Entscheidungen des Spielleiters, also sehr oft.
Die Zeit dieser lieb gewordenen Schmähungen (zur Vertiefung: www.schiri-raus.de) könnte bald vorbei sein. Aus der Stadt Erlangen kommt Kunde vom Fraunhofer Institut für Integrierte Schaltungen. Dort haben Ingenieure ein System ausgetüftelt, das es dem Schiedsrichter erlaubt, sich Spielsituationen auf dem Display seiner Armbanduhr noch einmal anzusehen. Vermittels dieser Apparatur könnten also charakterstarke Pfeifenmänner ihre Fehlentscheidungen korrigieren. Etwa so: "Tschuldigung, war gar kein Abseits, wir spielen die Szene noch mal!"
Eigentlich hätten deutsche Fußballfans besonderen Grund, die so genannten Tatsachenentscheidungen von Schiedsrichtern zu fürchten. Es sei nur zart an die Fehlentscheidung im WM-Finale von Wembley 1966 erinnert, als ein Tor, das keines war, die deutschen Träume beendete.
Aber, liebe Elektronik-Frickler aus dem bundesligafreien Erlangen, Folgendes: Wir haben rein gar keine Einwände, wenn Ihr mit Schaltungen, von uns aus auch mit integrierten, den Wohlstand unseres Gemeinwesens und den des ganzen Erdkreises befördert. Wir begrüßen das sogar ausdrücklich. Eines solltet Ihr allerdings bedenken: Der Fußball ist seinem Wesen nach ungerecht. Weil es, etwa im Vergleich zum Hand- oder Volleyball, nur wenige der spielentscheidenden Tore zu erzielen gibt, siegt häufig nicht die bessere Mannschaft, sondern das Team, dem der Zufall oder eben der Schiedsrichter in der richtigen Sekunde half. Dies ist nicht irgendein Charakteristikum des Fußballs, sondern es ist sein eigentliches Erfolgsgeheimnis.
Jede Erfindung, die den Fußballsport gerechter macht, würde ihn also seines Reizes berauben. Schon Nick Hornby, der melancholische Philosoph des Fußballs und Fan von Arsenal London, schrieb, dass ein erinnerungswürdiges Fußballspiel vor allem eines brauche: eine Schandtat.
CHRISTOPHER BAETHGE
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Erscheinungsdatum 12.11.2002