Vom wilderen Westen lernen
Für die meisten Europäer, insbesondere aber für die Deutschen, ist Wildnis immer noch der Inbegriff für Chaos und Anarchie. Was helfen noch so viele Wildnis-Träume, wenn deutsche Ordnungsliebe und ästhetisches Empfinden den chaotischen Naturzuständen nichts abgewinnen können? Wie läßt sich die Liebe zu dem unaufgeräumten Verhau wecken, der nun mal - das ist unser Problem - dem ökologischen Prinzip am meisten entspricht? Und wie kommt es, dass gerade in Deutschland - ein Blick auf die Gärten genügt - ein gestörtes Verhältnis zur Wildnis zu beobachten ist?
Gerhard Trommer klärt in seinem Buch “Wildnis - die pädagogische Herausforderung�?über die kultur- und geistesgeschichtlichen Hintergründe dieser Tatsache auf. Der USA-erfahrene Professor für Biologiedidaktik zeigt auf, dass in der deutschen Bildungsgeschichte die Wildnis zum Unbild der Erziehung und Bildung gemacht wurde. Wild wurde gleichgesetzt mit unkultiviert, ungebildet, primitiv und naiv. Hier die Wilden, dort die Zivilisierten.
Im Gegensatz dazu hat der Wildnis-Begriff in den USA Karriere gemacht, ist zum Leitbild der Naturauffassung und der Umweltbildung geworden. Auch wenn die Ausbeutung riesiger Ressourcen an Bodenschätzen, die Vernichtung der Prärie und die rücksichtslose Verdrängung der Indianer die andere Seite des Bildes US-amerikanerischer Praxis zeigt, so hat doch die Erfahrung von majestätisch wildem Land das ästhetische Empfinden für einmalige Landschaften geprägt.
In Deutschland dagegen herrscht Anfang des 19. Jahrhunderts die ländlich oder städtisch gepflegte Kulturlandschaft vor und prägte das Bild in den Köpfen der Menschen.
Amerikanische Wildnis-Idole
Es muß jedoch geistige Verbindungen zwischen Europa und den USA gegeben haben: Aus dem Geist deutscher und englischer Philosophie der Romantik inspiriert entstand in den 30 er Jahren des 18. Jahrhunderts in den Neuenglandstaaten eine intellektuelle Gruppe, die sich Transzendentalisten nannten und deren Ideen bis heute auf die amerikanische Geistesgeschichte ausstrahlen.
Es handelte sich um eine philosophisch-regligiös-literarische Bewegung, der Theologen, Philosophen und Pädagogen angehörten.
Ralph Waldo Emerson, ein Hauptvertreter dieses Zirkels, hängte seinen Pfarrersrock an den Nagel, weil ihm das kirchliche Milieu zu eng wurde, und widmete sich fortan dem “living learning�? dem schöpferischen Lernen und Schreiben im Umgang mit der Natur. In der Natur und in der Kunst waltet die gleiche Gesetzmäßigkeit von Fülle und Verlust, Hervortreten und Verschwinden, Kommen und Gehen, die Emerson als “Methode der Natur�?beschrieben hat.
Sein Freund und Schüler Henry David Thoreau ist der prominente und bis heute bekannte Vertreter aus dieser Intellektuellengruppe.
Im Gegensatz zu dem mehr theoretisch geprägten Emerson setzte Thoreau seine Lebensphilosophie in die Praxis um: Er lebte von 1845 bis 1847 abgeschieden in einer Hütte im Wald bei Concord im Staat Massaschusetts, um sich in fröhlicher Muße der lebendigen Wildnis jenseits von Zivilisation und Konsum hinzugeben. Er liebte die Einsamkeit als Ort der Inspiration und der intensiven Gefühle. Schließlich entstand dort auch sein weit verbreitetes Werk “Walden - oder das Leben in Wäldern�? das zum Kultbuch für Generationen von Naturfreunden auch im 20. Jahrhundert wurde.
Vor allem aber beeindruckte seine Unbeugsamkeit und sein Mut auch in politischer Hinsicht. Damals praktizierte er schon zivilen Ungehorsam, indem er dem Staat keine Steuern zahlte, um gegen den Sklaverei zu protestieren.
Ein Thoreau für Deutschland gesucht
Solch eine Idolfigur konnte Deutschland leider nicht bieten. Auch wenn große Männer wie Johan Wolfgang von Goethe oder Alexander von Humboldt geistreiche Abhandlungen über die Natur schrieben, so waren sie doch zu edel und adlig, um der breiten Bevölkerung die Leidenschaft für die wilde Natur zu vermitteln.
Es gilt nun in unseren Landen andere Wege zu suchen, um die Achtsamkeit vor Wildnis gesellschaftsfähig zu machen. Kann die Ethik weiterhelfen?